Gesundheitspolitik

«Ich kann Ärzte nicht vergleichen wie Restaurants.»
Am Krankenbett zählt nicht Marktlogik, sondern Verletzlichkeit. Doch die Politik behandelt die Medizin zunehmend wie ein Konsumgut: Kontrolle, Kennzahlen, Pauschalen. Über bessere Reformen sprechen die Soziologin Marianne Rychner und Fridolin Marty, Leiter Gesundheitspolitik bei Economiesuisse.
Interview: Marco Tackenberg und Sandra Küttel
Welches sind die grössten Irrtümer über das Schweizer Gesundheitssystem?
Marty: Die Kostenexplosion. In den Jahren der Pandemie sind die Gesundheitskosten zwar wie erwartet gestiegen. Aber der allgemeine Trend geht in Richtung stabiler oder gar sinkender Wachstumsraten im Gesundheitswesen. Das ist auch international zu beobachten.
Können wir uns als Gesellschaft die Gesundheitskosten noch leisten?
Marty: Ja, das können wir. Das wird klar, wenn wir das absolute Wachstum der Gesundheitskosten anschauen und nicht das relative. Zwar steigen die Gesundheitskosten prozentual stärker als das Bruttoinlandprodukt. Aber in absoluten Zahlen bedeutet das: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) beträgt rund 900 Milliarden Franken, die Gesundheitskosten etwa 100 Milliarden. Angenommen, die Gesundheitskosten steigen um 5 Prozent, also um 5 Milliarden. Dann muss das BIP nur um 0,6 Prozent wachsen, um diese Zunahme abzufedern. Dasselbe gilt für die steigenden Krankenkassenprämien und die durchschnittliche Erhöhung der Löhne. Die Belastung der Haushalte durch die Prämien ist in den letzten Jahren in absoluten Zahlen zurückgegangen. Denn die durchschnittlichen Löhne sind stärker gestiegen als die Prämien.
Rychner: Die Gleichsetzung von Gesundheitskosten mit Konsum ist schon falsch. Medizinische Versorgung ist kein Produkt.
Was unterscheidet denn Gesundheit von anderen Produkten?
Rychner: Wer in einem Restaurant schlecht isst, geht dort nicht mehr hin, wenn es andere, bessere Restaurants hat. Ein kranker Mensch jedoch ist auf Hilfe angewiesen. Die Ärztin hilft, die durch Krankheit beeinträchtigte Autonomie zurückzugewinnen. Ich kann mir nicht bei zwei Ärzten einen Hirntumor rausnehmen lassen und dann vergleichen, wer es besser gemacht hat. Ich muss darauf vertrauen, dass ich gut operiert werde, dass das bestmögliche gemacht wird. Das ist etwas anderes als ein Auto oder ein Brot zu kaufen.
Marty: Hat der Markt gar keine Funktion im Gesundheitswesen?
Rychner: Markt spielt eine Rolle bei Medikamenten, Geräten oder zwischen Krankenkassen. Ob dies im erwünschten Sinn funktional ist, wäre ein Thema für sich. Worauf ich mich vorhin bezog, ist der Kern der Medizin: Ein Patient weiss nicht, was er braucht, eine Ärztin muss erstmal genau hinschauen, nicht etwas anpreisen. Hier liegt auch der Ursprung des Werbeverbots. Ärzte gehen nicht in die Kneipe und sagen: «Hallo, Sie sehen schlecht aus. Kommen Sie morgen vorbei.» Leider erodiert das Werbeverbot derzeit etwas, das bekräftigt ungewollt den Eindruck der nutzenmaximierenden Leistungserbringer.
Marty: Im Gesundheitswesen geht es dem Patienten «ans Läbige». Die Menschen wollen deshalb nichts riskieren und verlangen Solidarität, obwohl sie gewisse Behandlungen durchaus selbst bezahlen könnten. Sie wollen einfach sicher sein, dass sie jederzeit Zugang zu einer Behandlung haben. Wo ich aber nicht ganz mit Marianne Rychner einig bin: Die Marktlogik funktioniert zwar beim Beispiel des Hirntumors nicht. Aber unter den 100 Milliarden an Gesundheitskosten, die wir jährlich in Anspruch nehmen, gibt es Leistungen, die sich nicht so stark vom Coiffeurbesuch unterscheiden. Dabei geht es nicht «ans Läbige», zum Beispiel die Ohren ausspülen oder kleinere Wunden zu versorgen.
Rychner: Ok, aber Vertrauensverlust kann in der ärztlichen Praxis entstehen, wenn etwa Fragen nicht ernst genommen werden. Wo früher eher ein autoritäres Auftreten des Arztes irritierend war, ist es heute oftmals das Gegenteil, die Unterstellung der – allzu – mündigen Patientin, die selbst entscheiden soll, was gut ist für sie. Erfahrene Professionelle hingegen können meist ganz gut unterscheiden, wem sie was wie näherbringen. Auch dafür braucht es mehr Zeit und weniger Checklisten.
Marty: Fördert die Politik dieses Vertrauen?
Rychner: Wenn wir regelmässig hören, dass alle Leistungserbringer nichts als Nutzenmaximierer sind, dann schwindet das Vertrauen zu ihnen. Das ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Es drohen Reformen, die das Gesundheitssystem schwächen würden. Was müssten wir ändern, um das Gesundheitssystem zu verbessern?
Rychner: Die Gesundheitspolitik muss die komplexe Logik, wie ärztliches Handeln funktioniert, ernster nehmen – und auch die Logik des Patientenhandelns. Es ist deshalb richtig, dass man einen Teil der Behandlung selbst bezahlt, weil Genesung mit ärztlicher Hilfe und durch eigenes Zutun geschieht. Selbstbehalt und Franchise sind an sich sinnvoll. Nur: Im jetzigen System wählen Menschen mit kleinem finanziellem Spielraum eine hohe Franchise. So sparen sie Prämien, aber wenn sie krank sind, können sie sich die Behandlung wegen der hohen Franchise nicht leisten. Diese unsoziale Folge ist gravierender als hohe Prämien. Deshalb würde ich die Franchise vermögensund einkommensabhängig gestalten.
Stimmen Sie dem zu, Herr Marty?
Marty: Das wäre sicher besser als die Prämien einkommensabhängig zu gestalten. Aber grundsätzlich bin ich Franchisen gegenüber eher kritisch. Mein Vorschlag zur Verbesserung des Gesundheitssystems lautet: Die Franchise abschaffen und stattdessen den Selbstbehalt erhöhen. Selbstbehalte sollten regressiv, aber nie gleich null sein. Aktuell läuft es so: Am Anfang muss man alle Behandlungen selbst bezahlen. Solange die Franchise nicht aufgebraucht ist, hat man null Prozent Rabatt auf Gesundheitsleistungen. Danach hat man 90 Prozent Rabatt, bezahlt nur 10 Prozent Selbstbehalt. Nach 7000 Franken hat man dann 100 Prozent Rabatt. Besser wäre es, der Patient muss am Anfang vielleicht 50 Prozent der Leistungen bezahlen. Und dann geht es runter, bis zu einem Prozent. So könnte man die Franchisen abschaffen und die insgesamt höhere Kostenbeteiligung durch Selbstbehalte sozial abfedern.
Rychner: Ich bin einverstanden, dass neben der Franchise auch Selbstbehalte einkommens- und vermögensabhängig gestaltet sein müssten. So wird anerkannt, dass der Beitrag zur Genesung den eigenen Spielräumen entspricht. Bevor es Versicherungen gab, war es ein Hinweis auf die gesellschaftlich erwartete Gemeinwohlorientierung, wenn ein Arzt, plakativ gesagt, von reichen Kranken mehr Honorar verlangte und dafür ärmere günstiger behandelte, das kann man etwa bei Gotthelf nachlesen.
Marty: Richtig. Eine Verbilligung der Kostenbeteiligung wäre besser als die Prämienverbilligungen, die wir in unserem System kennen.
Rychner: Angemessen wäre umgekehrt auch eine stärkere Beteiligung bei hohen Einkommen, so dass in jedem Fall klar bleibt: Ärztin und Patient tragen zur Wiederherstellung je bei, was sie «vermögen». Dieses Prinzip ist nicht nur bei der Finanzierung wichtig, auch bei der Frage, welche Behandlung wann angemessen ist: Bei einem Patienten hilft vielleicht Homöopathie, selbst wenn es ein Placebo ist. Und in manchen Fällen braucht es mehr Zeit, um zu verstehen, wo das Problem wirklich liegt. Vertrauen entsteht fallspezifisch, nicht standardisiert nach Checkliste. Und dies erfordert genügend Spielräume für ärztliches Handeln. Wo Vertrauen ist, werden auch nicht kompensatorisch Leistungen «konsumiert».
Marty: Die Standardisierung kommt daher, dass man alles regulieren will.
Rychner: Genau, Formulare ausfüllen, Scheinpräzision erzeugen, da tragen auch die Krankenkassen dazu bei ...
Marty: Ich muss immer schmunzeln, wenn gesagt wird, Dänemark und Schweden seien vorbildliche Gesundheitssysteme. Denn diese Länder standardisieren knallhart. Dort ist der Patient nicht mehr ein Einzelfall, sondern eine Diagnose. Ich finde es aber sehr wichtig, dass die Ärztinnen und Ärzte noch einen individuellen Spielraum haben. Im Gesundheitssystem kann man nur wenig standardisieren.
Was halten Sie von der Reform, die die Tessiner Stimmbevölkerung kürzlich angenommen hat, einem Prämiendeckel?
Marty: Aktuell werden die medizinischen Leistungen zu etwa 35 Prozent über Steuern finanziert – einerseits über die Spital- und Pflegebeiträge und andererseits über die Prämienverbilligungen der Kantone. Der Rest wird durch die Kopfprämien finanziert. Die Menschen mit den höchsten Einkommen bezahlen bereits jetzt ungefähr doppelt so viel wie jene, die weniger Geld zur Verfügung haben. Werden die Prämien gedeckelt, wird der steuerfinanzierte Teil einfach grösser. Das schwächt jedoch die Kostentransparenz. Das Gesundheitswesen wird nicht untergehen, wenn etwas weniger oder etwas mehr als 35 Prozent über die Steuern finanziert wird. Ich wäre aber dagegen, das Gesundheitswesen nur über die Steuern zu finanzieren. Alles hat Vor- und Nachteile, deshalb sind Mischfinanzierungen, wie sie in unserem Gesundheitswesen bestehen, immer gut.
Was würden Sie an unserem Gesundheitssystem sonst noch ändern?
Marty: Die Bürokratie abbauen. Im heutigen System muss alles überprüft werden, es gibt Verordnungen, Formulare, Meldesysteme. Ein stichprobenartiges Vorgehen wie im Strassenverkehr wäre sinnvoller: Wir gehen davon aus, dass alle mit 50 km/h fahren. Um die schwarzen Schafe zu überführen, stellen wir ab und zu Radarkästen auf. Das liesse sich auf das Gesundheitswesen übertragen. Dieses tägliche Ausfüllen von Formularen und Begründen von Leistungen ist einfach mühsam – und teuer. Ich habe es ausgerechnet: Wir könnten 3000 Ärztinnen und Ärzte sparen, wenn wir zu den bürokratischen Anforderungen des Jahres 2017 zurückgehen würden. Auch bei der Kostengutsprache: Einfach mal durchwinken und ab und zu kontrollieren.
Rychner: Das ist eine gute Idee!
Heute spricht man vermehrt auch von Finanzierung durch Capitation. Das heisst: Leistungserbringer oder Versorgungsnetzwerke erhalten pro Patienten einen festen Betrag pro Zeitraum – unabhängig von der Anzahl erbrachter Leistungen. Liegt der Aufwand über der Pauschale, macht die Praxis oder das Netzwerk Verlust; liegt er darunter, entsteht Gewinn. Aber das führt ja auch wieder zu einem Vertrauensverlust: Als Patient kann ich nie wissen, ob mir meine Ärztin aus finanziellen Gründen eine Therapie oder eine Diagnostik vorenthält.
Marty: Nun, es gibt durchaus Diagnosen und Patientengruppen, bei denen diese Art der Finanzierung sinnvoll ist. Zum Beispiel in der Grippesaison oder bei relativ einheitlichen Eingriffen. Aber ich sehe Pauschalen eher kritisch. Die Qualitätsindikatoren des Schweizer Gesundheitssystems waren immer sehr gut. Der Grund: Wir haben einen Einzelleistungskatalog. Damit sind wir vielleicht tendenziell überversorgt. Aber zumindest droht keine Unterversorgung, was deutlich schlimmer wäre. Jetzt werden im ambulanten Bereich ebenfalls Pauschalen eingeführt. Wir müssen achtgeben, dass das System damit nicht schlechter wird. Und dann gibt es auch noch Menschen, die sich selbst systematisch unterversorgen. Ich kenne Personen auf dem Land, die stark unterversorgt sind, weil sie nicht gern zum Arzt gehen. Sie nehmen die Unterversorgung gar nicht als Problem wahr.
Rychner: Die Kritik an den Pauschalen teile ich und auch, dass man sich nicht zu sehr vor «Überversorgung» zu fürchten braucht. Der Begriff unterstellt, dass es nur so wimmelt von Hypochondern.
Welche Anhaltspunkte habe ich als Patient, um eine gute Ärztin oder einen guten Arzt zu suchen? Sollten Spitäler zum Beispiel Qualitätsindikatoren veröffentlichen, damit man prüfen kann, wie viele Prostataoperationen, Kniearthrosen oder Hüftimplantate sie machen?
Marty: Unverdächtige Sachen wie medizinische Schwerpunkte, die Zahl der Betten oder Fallzahlen kann man veröffentlichen. Komplexere Indikatoren sollten nur für Experten zugänglich sein, etwa bei Qualitätszirkeln. Das bedeutet: Ärztinnen und Ärzte setzen sich zusammen und diskutieren gemeinsam einen schwierigen Fall. Sogenannte Peer Audits sind auch sinnvoll. Das Ziel ist, durch die Einschätzung von Fachpersonen mit Aussensicht eine Qualitätskontrolle zu gewährleisten.
Rychner: Wegen der Komplexität ärztlicher Praxis finde ich die Veröffentlichung von Indikatoren ebenfalls problematisch. Wenn in Institutionen der Anreiz dominiert, schnell gute Indikatoren zu haben, werden eher Fälle behandelt, die gut enden. Eine Ärztin muss aber die Motivation haben – ich sage bewusst nicht Anreiz – auch komplexe Fälle anzunehmen, bei denen der Ausgang ungewiss ist.