Inklusion

Gestalter des eigenen Schicksals

Mit nur 32 Jahren gehört Felix Kieser zu den weltbesten Hornisten unserer Zeit. Sein Instrument spielt er mit den Füssen, denn Felix Kieser wurde ohne Arme geboren. Die Behinderung hat ihn nie davon abgehalten, seine Ziele zu verwirklichen. Woraus hat er diese Kraft geschöpft? Felix Kieser konnte seit dem Kindesalter auf die bedingungslose Unterstützung seiner Familie zählen. Sätze wie «Das kannst Du nicht» hat er von seiner Mutter nie gehört. Er begann mit kleinen Schritten und verfolgte sein Ziel beharrlich weiter. Wenn Schwierigkeiten auftauchten, suchte er nach kreativen Lösungen. Entmutigen liess er sich nie. «Erfolg ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon mit Höhen und Tiefen. Wenn wir das nicht verstehen, brauchen wir erst gar nicht anzufangen» sagt er über seinen Lebensweg1.

Mit geduldiger Beharrlichkeit zum Ziel
Fast 150 Jahre vor Felix Kieser – im Jahr 1848 – wurde Carl Herrmann Unthan geboren. Dass ihm eine Weltkarriere als Geiger und Schriftsteller bevorstehen sollte, hätte man sich bei seiner Geburt nicht zu träumen gewagt. Denn auch Carl Herrmann Unthan kam ohne Arme zur Welt. Als 10-Jähriger hatte er die Idee, sich selbst das Geigenspiel beizubringen. Er legte eine Violine auf einen Stuhl und spielte das Instrument mit seinen Füssen. Innerhalb weniger Jahre erreichte er eine so aussergewöhnliche Geschicklichkeit, dass er am Musikkonservatorium zugelassen wurde. Nach dem Studium trat er als Solist in renommierten Orchestern auf und feierte internationale Erfolge. Unthan führte ein eigenständiges Leben, er konnte sich selber an- und ausziehen, rasieren oder Krawatten binden. Mit seinen Füssen schrieb er Briefe, er nutzte dazu auch die Schreibmaschine. So entstand 1925 seine Autobiografie – genannt Pediskript (in Analogie zum Wort Manuskript). Unthan stellte seine Geschicklichkeit als «Jedermanns-Kunst», oder als «Alltags-Kunst» dar: Er war überzeugt, dass es grundsätzlich jedem Menschen möglich wäre, diese Fähigkeiten zu erlernen – Willen und Training vorausgesetzt. Es wäre nicht vermessen, Carl Herrmann Unthan als Vorreiter der Inklusion zu bezeichnen: So forderte er von der Gesellschaft, dass sich Menschen mit Behinderungen frei entfalten und uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können2.

Gestalter des eigenen Schicksals
Aus den beiden Lebensläufen spricht eine existentialistische Grundhaltung: «Wichtig ist nicht, was man aus uns macht, sondern was wir selbst aus dem machen, was man aus uns gemacht hat» so Sartre3, der französische Philosoph (1905-1980). Der Mensch ist frei, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und seine Existenz selbst zu gestalten. Mit dieser Freiheit geht jedoch auch die Verantwortung einher, die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu tragen. Felix Kieser und Carl Herrmann Unthan nutzten diese Freiheit, um Gestalter des eigenen Schicksals zu sein. Das erforderte viel Kraft und Durchhaltevermögen. Als Gesellschaft sind wir gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die behinderten Menschen eine möglichst grosse Selbständigkeit ermöglichen. Was können uns die Geschichten von Felix Kieser und Carl Herrmann Unthan für unser eigenes Leben lehren? Für den deutschen Philosophen Peter Sloterdijk4 praktizieren Menschen, die sich mit ihren Einschränkungen arrangieren und dennoch ein erfülltes Leben führen, eine Art von Überlebenskunst. Sie führen uns vor Augen, was es heisst, sich in einer Welt zu behaupten, die uns Grenzen setzt. Sie zeigen, wie sich kreative Strategien entwickeln lassen, um mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Und sie zeigen, dass es im Leben nicht nur um Perfektion geht, sondern um die Fähigkeit, mit den eigenen Schwächen und Grenzen umzugehen.

Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderungen lernen können

1. «Geben Sie sich nicht zu sehr mit Ihren Schwächen ab, sondern fokussieren Sie auf Ihre Stärken. Jeder hat irgendein Talent – eine Fähigkeit, eine Gabe, ein Geschick. Der Weg zu einem erfüllten Leben liegt oft genau in diesem Talent verborgen.»5– Nick Vujicic, Motivationsredner, ohne Arme und Beine geboren.

2. «Bewahren Sie Haltung. Man sagt oft, Gesundheit sei das Wichtigste im Leben. Menschen mit Behinderungen wissen: Gesundheit ist zwar wichtig, doch wenn sie fehlt, ist es entscheidend, welche innere Einstellung man der Krankheit gegenüber hat.»6 – Margarete Steiff, Gründerin der Spielwarenfabrik Steiff, nach Kinderlähmung an Armen und Beinen teilweise gelähmt.

3. «Arbeiten Sie beharrlich an Ihren Zielen. Wenn Ihnen etwas nicht gelingt, fangen Sie wieder von vorne an. Von Mal zu Mal entwickeln
Sie sich weiter, bis Sie bemerken, dass Sie ein Ziel erreicht haben.
»7 – Helen Keller, amerikanische Schriftstellerin, taubblind von Babyalter an.

4. «Üben Sie sich in Gelassenheit und ärgern Sie sich nicht über Kleinigkeiten. Das Leben wird grössere Herausforderungen für Sie bereithalten. Was bedeutet eine lange Warteschlange an der Kasse schon im Vergleich zu einem defekten Rollstuhl?»8 – Tiffiny Carlson, Schriftstellerin und Tetraplegikerin.

5. «Betrachten Sie sich nicht als Opfer äusserer Umstände, so schränken Sie sich nur selber ein. Nehmen Sie Ihr Schicksal stattdessen selbst in Ihre Hände: Gleichgültig, was geschieht, man hat immer eine Wahl, wie man reagieren will.»9 – Marla Runyan, blinde Langstreckenläuferin.

6. «Üben Sie sich in Demut, statt in Mitleid. Vergessen Sie nie: Kein Mensch ist gefeit vor einer körperlichen Behinderung. Das Leben bringt viele Unwägbarkeiten. In der einen oder anderen Form werden die meisten Menschen irgendwann auf Hilfe angewiesen sein.»10 – Tiffiny Carlson, Schriftstellerin und Tetraplegikerin.

 

Bibliografie

1 Aus «Ich will» von Rainer Zittelmann, S. 337
2 Aus «Du musst Dein Leben ändern» von Peter Sloterdijk, S. 75
3 Jean-Paul Sartre in: L’Arc, Nr. 30, 1966, S. 95
4 Ebd., S. 99
5 Aus Rainer Zittelmann: «Ich will», S. 323
6 Ebd. S. 23
7 Ebd. S. 114
8 «Blog Mobility Resource», Tiffiny Carlson
9 Ebd. S. 301
10 «Blog Mobility Resource», Tiffiny Carlson