Kritisches Denken

 

Warum wir Grund zur Hoffnung haben.

2022 war kein gutes Jahr. Kaum hatten wir Atem geschöpft nach der Pandemie, ging es weiter mit Krieg, Hitzesommer, Inflation, einer weiteren bedrohlichen Infektionskrankheit und mit kalten und düsteren Aussichten für den Winter. Die Schlagzeilen erwecken den Eindruck, die Welt komme nicht mehr zur Ruhe. Eine Katastrophe folgt auf die nächste, jede ist beunruhigend, ja beängstigend.

Was wissen wir über die Welt?
Wir leben in einer anspruchsvollen Zeit. Gerade deshalb dürfen wir nicht vergessen: Neben all dem Schwierigen passiert auch viel Gutes auf der Welt. Das ist ein Fakt – ganz ohne Kalenderspruchmentalität oder spirituellen Hintergrund.

Hier also die Fakten:

  • 75 Prozent der Menschen weltweit leben in Ländern mit mittlerem Einkommen. Sie sind weder sehr arm noch sehr reich, sondern irgendwo dazwischen.
  • Vor allem in China und Indien, den zwei bevölkerungsreichsten Ländern mit jeweils mehrals einer Milliarde Einwohnern, haben sich die Lebensumstände stark verbessert. 9 Prozent der Weltbevölkerung leben noch in extremer Armut. Vor 20 Jahren waren es 29 Prozent.
  • Die Zahl der Kinder unter 14 Jahren, die unter schlechten Bedingungen Vollzeit arbeiten, sinkt kontinuierlich: Von 28 Prozent im Jahr 1950 auf mittlerweile 10 Prozent.
  • 90 Prozent der Mädchen besuchen heute die Grundschule. Vor 50 Jahren waren es nur 65 Prozent.

Die Liste liesse sich noch lange fortsetzen. Zusammengetragen hat die Beispiele Hans Rosling, ein schwedischer Professor für internationale Gesundheit. Rosling hatte mehrere Jahre als Arzt in afrikanischen Ländern praktiziert und geforscht. Als er später Dozent an der Universität in Stockholm wurde, stellte er fest, dass die Studentinnen und Studenten erstaunlich wenig über die Welt wussten. Sie glaubten, die Zahl der Armen nehme zu, die Länder auf der Südhalbkugel würden dem Norden für immer hinterherhinken, und es gebe Jahr für Jahr mehr Gewaltverbrechen und Korruption. Rosling aber wusste, dass das Gegenteil der Fall ist. Fortan setzte er sich gesellschaftlichen Fortschritt wird kaum berichtet, weil die Veränderung zu trivial scheint und zu langsam geschieht. Der US-amerikanische Psychologe und Autor Steven Pinker bemerkt in einem Aufsatz, das Gute bestehe oft darin, dass nichts geschieht – dass eine Nation frei von Krieg bleibt oder eine Hungersnot nicht ausbricht. Darüber wird jedoch kein Medium berichten.

Daten als Therapie
Rosling behauptet nicht etwa, dass es keine armen oder leidenden Menschen mehr gibt. Vielmehr nutzt er Daten und Statistiken als Therapie. Eine Therapie für die ganze Menschheit. Denn wer allzu pessimistisch ist, gibt auf. Wer sich selbst bereits in einem Endzeitszenario sieht, wird nichts mehr verändern wollen – es ist ja sowieso zu spät. Diese Lethargie beschleunigt den Abstieg umso mehr. Hätten die Generationen vor uns dem Pessimismus nachgegeben, hätten wir heute kein Frauenstimmrecht, keinen Umweltschutz, keine öffentliche Gesundheitsversorgung, und wir würden nicht in einem liberalen Rechtsstaat leben. Aber solange wir sehen, dass vielerorts ein Wandel stattfindet, sei er auch noch so langsam, solange wir erkennen, dass nichts auf der Welt unveränderlich ist, und wir uns für diese Veränderung einsetzen, so lange besteht noch Hoffnung.

Neugierig bleiben
Wir leben in einer anspruchsvollen Zeit – aber nicht nur. Wir leben in einer Welt, die in weniger als einem Jahr mehrere Impfstoffe gegen eine neue Infektionskrankheit entwickelte. Eine Welt, in der die durchschnittliche Lebenserwartung in Afrika seit dem Jahr 2000 um zehn Jahre gestiegen ist. Eine Welt, die es jedes Jahr Tausenden von Menschen erlaubt, ihr Einkommen zu vergrössern und ihre Lebensumstände zu verbessern.

Hans Rosling starb 2017, im Alter von 69 Jahren, an Krebs. In seinem letzten Lebensjahr verfasste er das Buch «Factfulness», um zu beschreiben, wie die Welt wirklich ist. Denn nur so können wir erkennen, was nötig ist, um sie besser zu machen, meint Rosling. Und er appelliert: «Bleiben Sie neugierig auf neue Informationen aus anderen Gebieten. Und anstatt nur mit Menschen zu sprechen, die mit Ihnen übereinstimmen, oder nach Beispielen zu suchen, die Ihre Ideen bestätigen, setzen Sie sich mit Menschen auseinander, die andere Ansichten haben. Betrachten Sie abweichende Ideen als eine wichtige Ressource, um die Welt zu verstehen.» Wenn wir die Zukunft mit dieser Neugier angehen, mit Nachsicht, Mut und Entschlusskraft, dann besteht Hoffnung: Hoffnung, dass wir Rückschläge verkraften und Fortschritte machen.