#07

Die Stunde der Verbände

Es ist eine Eigenheit unserer Demokratie: die Einbindung der Verbände in politische Entscheide. Die Politikwissenschaft verwendet dafür den Begriff Neokorporatismus. In der Coronapandemie zeigt sich der Vorteil dieses Modells: Verbände liefern Informationen, erstellen Schutzkonzepte und entlasten so den Staat und seine Behörden.

Text: Markus Gubler

 

Frühling 2020: Das neue Coronavirus breitet sich in der Schweiz rasant aus. Am 16. März 2020 ruft der Bundesrat die ausserordentliche Lage aus. Für Arzt- und Zahnarztpraxen haben die behördlichen Anordnungen einschneidende Folgen: Sie dürfen nur noch Notfallbehandlungen durchführen. In den darauffolgenden Tagen werden schweizweit tausende Termine verschoben. Die Wartezimmer bleiben leer, die Behandlungseinheiten unbesetzt – mit immensen wirtschaftlichen Folgen für die Praxisinhaber.

Die Berufsverbände sind gefordert. Es braucht durchdachte, überzeugende Schutzkonzepte, die eine rasche Wiederaufnahme der Behandlungen ermöglichen. Hinter den Kulissen arbeiten Vorstände und Stabsstellen mit Hochdruck an Lösungen. Dabei kommt ihnen ein Umstand zugute: In der Schweiz stehen Verbände den Behörden traditionell nahe. Behördenvertreter sitzen in Kommissionen und Gremien der Verbände. Die Kontakte sind persönlich. In Krisen, wenn die Zeit für Entscheide begrenzt ist, sind solch enge Beziehungen von grossem Wert.

Das zeigt sich beispielsweise bei den Zahnärztinnen und Zahnärzten. Innert weniger Wochen wurde ein praxisnahes Schutzkonzept erarbeitet. Es präzisiert, welche Verhaltens- und Hygieneregeln in Praxen anzuwenden sind. Der Berufsverband koordinierte sich dabei eng mit der Vereinigung der Kantonszahnärzte. Letztlich warben der Berufsverband und die Kantone beim Bund mit quasi identischen Schutzkonzepten für die Wiederaufnahme der klinischen Tätigkeiten in den Praxen – mit Erfolg. Sechs Wochen nach den massiven Einschränkungen konnten die Schweizer Zahnärztinnen und Zahnärzte wieder nahezu alle Eingriffe vornehmen. Sie gehörten zu den ersten weltweit, die nach einem Lockdown wieder normal arbeiten durften.

Für Daniel Koch, den ehemaligen Covid-19-Beauftragten des Bundesamts für Gesundheit, nahmen die Verbände – gerade im medizinischen Bereich – schon vor der Pandemie eine wichtige Funktion ein. «Der Bund regelt nur einen beschränkten Bereich. Das ist das Schweizer System, und es hat sich bewährt.» Ähnlich sieht es Jérôme Cosandey, Directeur romand und Forschungsleiter Sozialpolitik des Think Tank Avenir Suisse. «Verbände spielen in der Tat während der Krise eine wichtige Rolle. Sie können ihre Mitglieder über die komplexen Anordnungen auf Stufe Bund und Kanton informieren, Schutzmassnahmen empfehlen oder den Erfahrungsaustausch unter den Mitgliedern fördern.» Aber die Krise berge, so Cosandey, auch Gefahren für die Verbände. «Aufgrund der Umsatzrückgänge werden manche Mitglieder ihre Jahresbeiträge nicht mehr zahlen können oder wollen. Damit geraten die Verbände unter Druck, sichtbare kurzfristige Erfolge für ihre Klientel zu verzeichnen.» Das bedeutet im Umkehrschluss: Erwirken die Verbände Regulierungen im Sinne ihrer Mitglieder – in unserem Fall: Schutzkonzepte – gehen sie gestärkt aus der Krise hervor. Sie haben nicht nur an politischem Einfluss gewonnen, sondern auch die Vorteile einer Verbandszugehörigkeit nachhaltig aufgezeigt.